Der Stieglitz – ein farbenfroher und ruffreudiger Fink
Der Stieglitz heisst auch Distelfink, und beide Namen passen perfekt zu ihm. Einst war die Art als Käfigvogel beliebt, heute ist das Auftauchen eines Stieglitzes wie eine natürliche Auszeichnung
für gelungene Biodiversitäts-Förderung. Mit seinem bunten Gefieder fällt der Stieglitz in der oft eher unauffällig gefärbten Schweizer Vogelwelt auf. Seinen
Namen verdankt er seinem Ruf, der sich wie ein wiederholtes «Stiglitt» anhört. Dank des rot-weiss-schwarzen Kopfes und des gelben Flügelbands ist die Art leicht von anderen zu unterscheiden.
Einen Stieglitz zu sehen, ist aber trotzdem nicht ganz einfach: «Es handelt sich um eine Finkenart, und die sind sehr mobil», erklärt Livio Rey von der Vogelwarte Sempach. Die ruffreudigen
Stieglitze hört man daher eher, als dass man sie sieht. In halb offenen Landschaften Neben
dem charakteristischen Ruf hat seine Vorliebe für Disteln als Sitzwarte dem Stieglitz seinen zweiten Namen Distelfink oder lateinisch Carduelis carduelis (von lat. carduus = Distel) eingetragen. «Distelfinken mögen halb offene Landschaften, Ruderalflächen und naturnahe
Gärten», beschreibt Livio Rey die passenden Lebensräume – im Wald sind sie kaum anzutreffen. Der relativ kräftige Schnabel weist die Art als Samenfresser aus. Die spitze Form ermöglicht es dem
Stieglitz, Samen wie zum Beispiel Sonnenblumenkerne aus den Blütenköpfen zu picken. Zu seinem Nahrungsspektrum gehören aber auch Distel-, Birken- oder Erlensamen und diverse
Blütenpflanzen. Bei über 150 Pflanzenarten, die ihm als Nahrungsquelle dienen können, ist der Stieglitz als Generalist zu bezeichnen. Um seine Jungen grosszuziehen, ist aber auch der
Samenfresser auf Insekten als Proteinquelle angewiesen. «Blattläuse werden gerne gefressen, aber auch diverse Fliegen, Käfer und andere Insekten», sagt Livio Rey.
«Farben zeigen
ein gesundes Immunsystem.» Ornithologe Livio Rey über buntes Gefieder. Beim Stieglitz ist es schwerer zu
erklären.
Einst
beliebter Käfigvogel
Der Stieglitzbestand in der Schweiz ist stabil, immer mehr von ihnen verbringen aber auch den Winter hier. Es soll sich dabei insbesondere um Männchen handeln.
«Männchen sind meist etwas grösser und kräftiger, was sie robuster gegen die Kälte macht», so die Begründung von Livio Rey. Ausserdem können männliche Stieglitze mit ihren längeren Schnäbeln
Kardensamen besser nutzen und profitieren davon, im Frühling bereits im Brutgebiet auf die zurückkehrenden Weibchen warten zu können. Zwar sind diese Vögel nicht so stark territorial wie andere,
wer bereits über einen geeigneten Platz für das filigrane Nest aus kleinen Wurzeln und Moos weit aussen im Geäst eines Baumes verfügt, ist aber im Vorteil. Wie genau das Geschlechterverhältnis
der Stieglitze in der Schweiz im Winter aussieht, ist allerdings schwer zu beurteilen. Denn die beiden Geschlechter unterscheiden sich bei dieser Vogelart äusserlich kaum.Einst war der farbenfrohe Distelfink bei den Römern ein beliebter Käfigvogel. Wegen seines Gesangs und weil er sich leicht mit Kanarienvögeln kreuzen liess. Heute ist ein
Stieglitz-Schwarm – die Vögel sind sehr gesellig und selten allein unterwegs – wie eine natürliche Auszeichnung für eine naturnahe Landschaft mit wirkungsvollen Biodiversitätsförderflächen (BFF)
oder eine Gartengestaltung, die der Artenvielfalt zuliebe genügend Unordnung zulässt.
Kennen, was man schützt
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Biodiversität zu fördern. Als Motivation wird
häufig betont, welche Arten von dieser oder jener Massnahme profitieren sollen. Aber nicht immer sind einem die genannten Tiere geläufig. In Zusammenarbeit mit dem Bündner Wildtierfotografen
Charly Gurt stellen wir Ihnen daher hier Arten vor, die Sie mit Ihren Bemühungen unterstützen können. Damit Sie im Feld Erfolge sehen und benennen können, was dank Ihnen einen Lebensraum gefunden
hat.
Warum so farbig?
Die genauen Gründe, die den Stieglitz gefiedertechnisch quasi zum Kanarienvogel der Schweizer Vogelwelt gemacht haben, sind laut Livio Rey nicht ganz klar. «Die
allgemeine Erklärung lautet, dass die Farben ein Indiz für ein gesundes Immunsystem und damit einen gesunden Partner mit guten Genen sind», so der Ornithologe. Für die kräftigen Rot- und Gelbtöne
sind Carotinoide verantwortlich. Diese Farbstoffe machen zum Beispiel Rüebli orange und wirken antioxidativ, also unterstützend auf das Immunsystem. Darauf zu verzichten und die Farbstoffe im
Gefieder einzulagern, kann sich nur ein gesunder Vogel mit fittem Immunsystem leisten.
Der Zusammenhang von bunten Federn und Attraktivität für den Brutpartner steht beim Stieglitz allerdings auf wackligen Beinen, da sich Männchen und Weibchen nicht
unterscheiden. «Sonst ist es meist so, dass die männlichen Vögel auf diese Weise Werbung für sich machen.»
Ob männlich oder weiblich, ein Stieglitz ist ein schöner Anblick. Und wenn der Lebensraum passt, kann es sein, dass man – wohl unwissentlich – denselben Vögeln
immer wieder begegnet. Denn Stieglitze können über 10 Jahre alt werden. Text von Jil Schuller